Hommage an Clarissa Pinkola Estés und ihr Werk "Die Wolfsfrau"

 

Darüberhinausgehen

 

 

Manchmal denke ich, ich habe keine Tränen. Doch dann kullern sie, erschrecken mich. Mit einem Schlag sind sie und stossen mich ins Meer der Unerträglichkeit, das unermessliche Tief. Bis ich wieder auftauche, durchatme, über das Weichgezeichnete in den Augen hinwegschaue. Mich an einen Punkt ausserhalb ins Gewicht bringe und an dieser Sicherheit aufhänge, sodass ich gerade noch lebe.

 

Manchmal passiert das noch. Ich halte fest. Wie viele Einsichten und Erleuchtungen über mir ergangen, egal wie sehr ich meine, mich erhaben zu wissen über die Dinge, erwischt es mich. Das Leben, das sich nicht messen mag. Vermessen der Mensch dem Leben entgegen. Ein selbstgefälliges Maß.

 

Es hämmert in mir. Es fragt nach den Tränen. Pralle Tropfen Lebenselixier. Leben hör doch! Draussen tobt ein sinnbetäubender Regen. Es spukt Groll und Würdelosigkeit. Lieblosigkeit zum eigenen Leib, zur Seele. Sinnentleert und dunkel der Geist. An meiner Tür – mach halt, elende Vernichtung! Einen Schritt entfernt schon herrscht der Tod.

 

Lieblicher, einfallsreicher, zärtlich, so zärtlich hingegen ist das Leben. Aus der kleinsten Furche, aus Schutt und Asche sieht es sich empor. So zart, so sicher seiner selbst, unbeirrt und verspielt taucht es auf. Will und wird werden. Liebäugelt, schmeichelt und bleibt doch umzingelt vom Tode. Ohne Erbarmen, ohne Ausnahme. Auf ewig im Tanz vereint. Herab und hinauf im Ringelspiel der Emotionen, in die wir geworfen scheinbar aus dem Nichts – dem Tod vielleicht? Hinein in das Alles, das wir Leben nennen und das sichtbar vor uns erscheint. Sich dem widersetzen, dem entsagen?

 

Dazwischen die Tränen. Aus all den Möglichkeiten. Wo Leben doch auf allen Seiten ist. Hier noch fühlen, hier noch Heilung erfahren. An uns, am Anderen. Mit viel Glück und Geschick uns berühren mit all den Gefühlen, die in uns wohnen. Mit einer warmen Hand, einer Geste hervorgekehrt das Potenzial, das in Allem vergraben. Vielleicht kurz oder länger – was ist Zeit – enthüllt, Schritt für Schritt, die Fülle. Das Leben und darüber hinaus.

 

Angereichert in Wien, 16.10.2019

 Zu Besuch im Park

#1 Mondbaum und Zaun, Tinte auf Papier, 17 x 22 cm

Die Nacht ihrer Hochzeit. Wir abseits, fasziniert von unserem Zusammentreffen, an das wir uns unlöslich erinnern und darin zeitlos verflochten sind und die Bejahung im Blick des anderen schauen – in jener Nacht, ihrer Hochzeit. Von der wir fernab, weil fasziniert vom Gegenüber, weil untrennbar gemeint, nicht negierbar, soviel mehr verwandter als jede andere Ergänzung im Außen zuvor und danach schon, wie auch in jener Nacht der Hochzeit, wo wir Gäste waren.

#2 Zaunbaum im Mond, Acryl auf Karton, 40 x 50 cm

Du ohne Frack, ich ohne Kleid fern vom Fest. Weißt du noch, Liebster, im Park mit seinem verwilderten Geäst und den finsteren Laternen, die uns kaum Licht spendeten. Unter den alten, schweren Bäumen, die da hingen über uns, bedrohlich und verstohlen, als wollten sie sagen: „Was habt ihr hier verloren!“ Hindurch haben wir uns getraut und sind gegangen bis an den hohen, rostigen Zaun – dahinter mehr verwunschener Wald in dünkelster Nacht.

#3 Mondzamhaun, Acryl auf Leinwand, 100 x 80 cm

Dort soll ich dich schauen? Ich in deinen Augen, mein Blick zur Lichtung hin und du mir nach. Erinnerst du dich, Liebster, hinter den Bäumen am gruseligen Zaun. Unheimlich war es dort, doch wir waren uns sicher. Du noch reserviert mit soviel Verlangen, ich wie in Trance, weil du in meinem Herzen verfangen. War es damals oder heute? War es wahrer als wahr und alles was kommen sollte? In jener Nacht ihrer Hochzeit, da wir Gäste waren.

 

 

Angereichert 2018/2019

Zwischen Zenit und Nadir

Zwischen Zenit und Nadir, Acryl auf Leinwand, 90 x 60 cm

Es graut mir. Es graust mir. Vor der perfide Art den Gebenden wie an einer Angelschnur zappeln zu lassen. Ihm die Mündigkeit abzusprechen, sobald dieser im blinden Kampf fleht: „Gib mir auch. Einwenig nur. Bitte.“

 

Verzeih mir meine Abhängigkeit, bekanntlich stamme ich aus deiner Rippe und bin an dir blutig gelaufen. An dir zerbrochen. Kälte begleitet uns, wohin auch immer wir gehen. Kälte in den warmen Händen. In den klugen Sätzen. In den sich wiederholenden Dogmen. Eiseskälte als durchdringender Blick. Fremde. Immer wiederkehrendes Getrenntsein und die verstörende Erinnerung daran. Klirrendes Gemäuer. Überall lauert Gefahr.

 

Kalt ist es hier. Auf Messersklinge schreite ich dem Abgrund nahe. Darunter ruht bedrohlich bleiern die finstere Ewigkeit, die ich zu begreifen suche. In mir, mit dir, hier schon als Vorbereitung darauf was kommt, was ist. Sehne ich mich nach ihr oder fürchte ich sie – diese seltsame Verbundenheit, die ich nicht verstehe.

 

Ich frage nicht. Oder frage ich doch? Irgendwann wenn mir dann graust vor dir. Graut vor den Bedingungen. Graut vor mir und meiner Hörigkeit, unserem Zustand. Ich erschrecke vor dem Spiegelbild, vor meiner Unmündigkeit in deinen Augen. Aus Angst. Ich bliebe alleine. Alleine bleibe ich als dein verstoßenes Gerippe.

 

Erneut kriecht die Nacht bei meinem Fenster herein. Dort brennt noch die Kerze, stellt eine Vertikale da, die Erde und Himmel miteinander verbindet. Ich möchte sie nicht ausblasen – den Baum nicht gewaltvoll fällen. Die Zeit wird es ohnehin für uns tun. Was soll das Eingreifen bewirken? Wem zum Schutz erlischt das sichere Feuer?

 

Einmal mehr graut mir. Vor der Härte Haltung. Mir graut vor den Gedanken. Vor den Gefühlen graut mir. Vor der Ohnmacht, der Zerrissenheit – dem lodernden Horizont, wo Liebende nicht weilen, weil sie dort wie Krieger kompromisslos und einsam zum Sterben bestimmt sind.

 

In übergestreckter Körperhaltung folgt die Tat. Unzählige, vertikale Speere auf ihrem ewigen Weg verdunkeln das Licht. Wild, wilder könnte ich nicht sein, reiße mir die Anhänglichkeit vom Leibe und mit ihr die Nötigungen des Herzens. Danach kehrt die Ruhe ein und mit ihr die Einsicht oder unser Zusammenbruch und meine Auferstehung.

 

Es erlischt. Es darf verklingen. Deutlich höre ich Leben, das von außen mein Fenster bespielt und reise tief ins Innere. Der Atem so leicht, so mühelos, was soll mir schon geschehen? Frei war ich, frei bin ich, frei werde ich sein. In jedem Zustand – ich erinnere mich.

 

Angereichert 2018/2019